Im Frühjahr 1506 akzeptierte Leonardo – vielleicht wegen seines Ärgers über das Scheitern seiner Arbeit im Ratssaal – eine dringende Einladung nach Mailand, von Charles d’Amboise, Marschall von Chaumont, Leutnant des französischen Königs in der Lombardei. Die ihm von der Signoria auf Ersuchen des französischen Vizekönigs gewährte Beurlaubung belief sich nur auf drei Monate. Der Zeitraum wurde mehrmals verlängert, erst widerwillig, da Soderini klagte, dass Leonardo die Republik in Sachen des Schlachtengemäldes im Stich gelassen habe. Daraufhin bot der Maler ehrenvoll die Rückerstattung des gezahlten Honorars an, was die Signoria ebenso ehrenvoll ablehnte.

Ludwig XII. schickte Nachricht, dass Leonardo seine Ankunft in Mailand abwarten solle; er hatte eine kleine Madonna von ihm in Frankreich gesehen (wahrscheinlich die von Robertet gemalte) und erhoffte von ihm Werke der gleichen Klasse und vielleicht ein Porträt. Der König kam im Mai 1507 an, und bald darauf wurden Leonardos Dienste formal und gütlich von der florentinischen Signoria auf Ludwig übertragen, der ihm den Titel Hofmaler und ordentlicher Ingenieur verlieh. Im September des gleichen Jahres riefen ihn unangenehme Privatangelegenheiten nach Florenz. Sein Vater war 1504 gestorben, anscheinend ohne Testament. Nach seinem Tod kam Leonardo mit seinen sieben Halbbrüdern – Ser Pieros legitimen Söhnen – über das Erbe in Konflikt. Sie waren allesamt viel jünger als er selbst. Einer von ihnen, der dem Beruf seines Vaters folgte, machte sich zum Sprecher der anderen in der Anfechtung von Leonardos Ansprüchen auf seinen Anteil, erst an der Erbschaft des Vaters, dann an der eines Onkels. Der darauf folgende Rechtsstreit schleppte sich über Jahre hin und zwang Leonardo zu häufigen Besuchen in Florenz und Unterbrechungen seiner Arbeit in Mailand, trotz dringenden Briefen von Charles d’Ambois, dem französischen König selbst und anderen mächtigen Freunden und Patronen an die Behörden der Republik, den Vorgang zu beschleunigen. Es gibt Arbeitsspuren aus diesen unfreiwilligen Aufenthalten in Florenz. Ein dort 1508 gezeichnetes Blatt mit Skizzen zeigt den Anfang einer Madonna, die bis auf Kopien verloren ist. Eine der Kopien (Madonna Litta genannt) befindet sich in St. Petersburg .”. Ein Brief Leonardos an Charles d’Amboise von 1511, mit dem er das Ende des Rechtsstreits ankündigt, spricht von zwei Madonnen verschiedener Größe, die er mit nach Mailand bringen wolle. Eine davon war zweifellos die gerade erwähnet; könnte es sich bei der anderen um das Bild von Jungfrau, Hl. Anna und den Hl. Johannes im Louvre handeln, die nun basierend auf dem oben beschriebenen Karton von 1501 schließlich vollendet wurde?

In der Zwischenzeit war Mailand sein Hauptzuhause. Gemäß den Aufzeichnungen beschäftigten ihn nur wenige Malereiwerke und keine Skulpturen (es sei denn, der unerfüllte Auftrag für das Trivulzio-Monument gehörte in diese Zeit) während der sieben Jahre seines zweiten Aufenthalts in der Stadt (1506-1513). Er hatte sich einen neuen und ergebenen Freund und Schüler adliger Herkunft zugesellt, Francesco Melzi. In der Villa der Melzi-Familie in Vaprio, wo Leonardo regelmäßig verkehrte, wurde eine kolossale Madonna auf einer der Wände traditionell ihm zugeschrieben, es handelt sich aber tatsächlich um ein Werk Sodomas oder der Melzi-Familie selbst unter der Aufsicht des Meisters.

Ein anderer Maler im Dienste des französischen Königs, Jean Perral oder Jehan de Paris, besuchte Mailand und beriet sich mit Leonardo über technische Punkte. Aber Leonardos hauptsächliche praktische Beschäftigung war offenbar die Fortsetzung seiner großen hydraulischen und Bewässerungsarbeiten in der Lombardei. Sein altes belangloses Amt des Schauspielmeisters und Erfinders wissenschaftlichen Spielzeugs wurde bei Ludwigs XII. triumphalen Einzug nach dem Sieg von Agnadella 1509 wieder aufgegriffen und erfreute das französische Gefolge des Königs. Er wurde beim Bau des neuen Chorgestühls für die Kathedrale konsultiert. Er arbeitete wie immer eifrig in den Naturwissenschaften, insbesondere in Anatomie zusammen mit dem berühmten Professor von Pavia, Marcantonio della Torre. In diese Zeit, als er auf sein sechzigstes Jahr zuging, könnte das Selbstporträt in roter Kreide in der Biblioteca Reale in Turin gehören. Er sieht für seine Jahre zu alt aus, aber ziemlich ungebrochen. Der Charakter eines Altersweisen hat sich auf seinem Gesichtsausdruck abgezeichnet; seine Gesichtszüge sind würdevoll und deutlich liniert, sein Mund fest und fast streng, das Haar fällt ungeschnitten über seine Schultern und vermischt sich mit einem majestätischen Bart.