Leonardo war keiner der Renaissancekünstler, die die Pracht der antiken Kunst durch die Imitation von antiken Modellen wiederzubeleben suchten. Die Antiquitäten in den Medici-Gärten scheinen wenig Einfluss auf ihn ausgeübt zu haben, abgesehen davon, dass sie seinen Perfektionismus stimulierten. Nach seinen eigenen Instinkten war er lediglich Schüler der Natur. Von seinen ersten Tagen an hatte er sich mit vorher nicht da gewesenem Eifer und Lust an diese Studien gemacht. Er war der erste Maler, der das Spiel von Licht und Schatten als wichtige Erscheinung erkannte, nachdem frühere Schulen übereinstimmend Licht und Schatten der Farbe und den Konturen untergeordnet hatten.

Er war auch kein Student der gewöhnlichen und offenkundigen Erscheinungen der Welt. Besonders ihre fantastischen und ungewöhnlichen Erscheinungen zogen ihn am meisten an. Merkwürdige Formen von Hügeln und Felsen, seltene Pflanzen und Tiere, ungewohnte Gesichter und Figuren von Menschen, zweifelhafte Mienen und Lächeln, ob schön oder grotesk, und Kuriositäten waren die Dinge, über die er gerne grübelte und die er im Gedächtnis behielt. Er machte auch nicht vor der oberflächlichen Erscheinung jeglicher Art halt, sondern versuchte unermüdlich, ihre versteckten Gesetze und Ursachen zu ergründen. Er war davon überzeugt, dass ein Künstler, der sich damit zufrieden gab, die äußerlichen Aspekte der Dinge zu reproduzieren, ohne nach den versteckten Vorgängen der Natur hinter ihnen zu suchen, für seine Berufung nur halb ausgestattet war. Jedes neue künstlerische Problem wurde für ihn sogleich auch ein weit gehendes wissenschaftliches Problem. Die Gesetze von Licht und Schatten, die Gesetze der Perspektive einschließlich der Optik und der Physiologie des Auges, die Gesetze der menschlichen und tierischen Anatomie und der Muskelbewegung, diejenigen des Wachstums und der Struktur von Pflanzen und der Eigenschaften des Wassers, all diese und noch mehr verschaffte seinem unersättlichen Forschungsgeist fast von Beginn an Nahrung.

Indizien für die Vorlieben und Neugierden des jungen Manns findet man in den Legenden über verlorene Werke aus seiner Jugend.

  • Eines davon war ein monochromes Gemälde von Adam und Eva in Tempera, und darin werden neben der Schönheit der Figuren die unendliche Wahrhaftigkeit und Ausschmückung der Blätter und Tiere im Hintergrund in Begriffen gelobt, die an die Behandlung des Themas durch Albrecht Dürer in seinem dreißig Jahre später gefertigten berühmten Stich erinnern.
  • Nach einer anderen Geschichte soll ein Bauer aus Vinci in seiner Naivität Ser Pier nach einem auf einem Holzschirm gemalten Bild gefragt haben; der Vater soll den Auftrag lachend an seinen Sohn weitergereicht haben. Dieser schloss sich daraufhin mit jeglichen schädlichen Insekten und grotesken Reptilien, die er finden konnte, ein. Er beobachtete, zeichnete und sezierte sie emsig und produzierte schließlich das Bild eines Drachen, der aus ihren verschiedenen Formen und Aussehen zusammengesetzt war, und der so grimmig und realistisch wirkte, dass alle davor erschraken.
  • Mit gleichen Untersuchungen und nicht geringerer Wirkung malte er bei einer anderen Gelegenheit den Kopf einer Medusa mit Schlangenhaar.
  • Schließlich wird von Leonardo berichtet, dass er zu dieser Zeit mit Bildhauerei anfing, indem er mehrere Köpfe von lächelnden Frauen und Kindern modellierte.

An gesicherten und akzeptierten Malereien von dem jungen Genie, ob während seiner Lehrzeit oder seiner unabhängigen Jahre in Florenz (um 1470-1482), sind wenige noch vorhanden, und die beiden wichtigsten sind unvollständig.

  • Ein kleiner und reizvoller Streifen einer rechteckigen Verkündigung ist allgemein als seine Arbeit anerkannt und stammt von kurz nach 1470; eine Zeichnung in den Uffizien, die in größerem Maßstab dem Kopf der Jungfrau in dem gleichen Bild entspricht, scheint eher eine Kopie von späterer Hand zu sein.
  • Die kleine Verkündigung im Louvre passt im Stil nicht mit einer anderen und größeren, oft diskutierten Verkündigung in den Uffizien zusammen, die eindeutig aus der Werkstatt Verocchios um 1473-1474 stammt, und die viele Kritiker selbstsicher dem jungen Leonardo zuschreiben. Es könnte sich um eine gemeinsame Atelierarbeit von Verocchio und seinen Schülern einschließlich Leonardo handeln; sicherlich war dieser daran beteiligt, denn eine Studie für den Ärmel des Engels (in Christ Church, Oxford erhalten) ist fraglos von seiner Hand. Die Landschaft mit ihren geheimnisvollen spiralförmigen Bergen und gewundenen Wasserläufen ist sehr leonardesque, sowohl in diesem Bild als auch in einem anderen zeitgenössischen Produkt der Werkstatt, oder, wie einige meinen, aus der Hand Leonardos, nämlich eine sehr vollendete Madonna mit Nelke in München.

Weitere Werke dieser Zeit sind:

  • Das Bildnis von Ginevra de Benci, das er laut Aufzeichnungen gemalt hat, ist traditionell als das schöne Porträt einer Matrone im Palazzo Pitti identifiziert worden, das absurderweise als La Monaca bekannt ist. Später hat man es in einem recht matten, ausdruckslosen verrocchiesquen Porträt einer jungen Frau mit einem fantasievollen Hintergrund erkannt, das sich heute in der National Gallery of Art, Washington befindet. Beide Zuordnungen kann man nicht als überzeugend bezeichnen.
  • Mehrere Bildhauereiwerke, darunter ein Bas-Relief in Pistoia und ein kleines Terrakottamodell eines St. Johannes im Victoria and Albert Museum sind ebenfalls ohne allgemeine Zustimmung als Handwerk des jungen Meisters ausgegeben worden.
  • Von den vielen brillanten frühen Zeichnungen von ihm ist das erste datierbare eine Landschaftsstudie von 1473.
  • Eine prächtige Silberstiftzeichnung eines römischen Kriegers im British Museum ist eindeutig von oder für ein Bas-Relief unter unmittelbarem Einfluss Verrocchios entstanden.
  • Eine Reihe von Studien von Köpfen mit Stift oder Silberstift, mit einigen Entwürfen von Madonnen, einschließlich einer reizenden Serie im British Museum für eine Madonna mit der Katze, könnten zu den gleichen Jahren oder den ersten Jahren seiner Unabhängigkeit gehören.
  • Ein Bogen mit zwei Kopfstudien trägt eine Notiz von 1478, die besagt, dass er in einem der letzten Monate dieses Jahres die Zwei Köpfe begann. Einer der beiden könnte das Bild der Erscheinung der Jungfrau des Heiligen Bernhard sein, von dem wir wissen, dass es in dem Jahr für eine Kapelle im Palast der Signoria in Auftrag gegeben wurde, ohne beendet zu werden. Der Auftrag wurde nachher an Filippino Lippi übertragen, dessen Ausführung sich in der Badia befindet. Einer der beiden Köpfe auf diesem datierten Bogen könnte wahrscheinlich eine Studie für den gleichen Heiligen Bernhard sein; sie wurde später für einen Heiligen Leonard in einer steifen und faden Himmelfahrt Christi verwendet, die im Berliner Museum fälschlicherweise dem Meister selbst zugeordnet wurde.
  • Eine Stiftzeichnung, die Bernardo Baroncelli darstellt, einen Anführer der Pazzi-Verschwörung, wie er nach seiner Auslieferung an die Abgesandten von Florenz durch den osmanischen Sultan aus einem Fenster des Bargello hängt, kann wegen seines Themas auf den Dezember 1479 datiert werden.
  • Eine Reihe seiner besten Zeichnungen der folgenden Jahre sind vorbereitende Stiftstudien für ein Altarbild der Anbetung der Weisen, das Anfang 1481 im Auftrag der Mönche von San Donato in Scopeto angefertigt wurde. Der monochrome Entwurf für dieses Bild, ein Werk außergewöhnlicher Kraft sowohl in der Zeichnung als auch im physiognomischen Ausdruck, ist in den Uffizien erhalten, aber das Altarbild selbst ist nie ausgeführt worden. Nachdem Leonardo diesen Auftrag nicht ausführte, musste auch hier an seiner Stelle Filippino Lippi eingesetzt werden.
  • Von gleicher oder sogar stärkerer Kraft, wenn auch kleinerem Umfang, ist ein unvollendeter monochromer Entwurf für einen Heiligen Jerome, der zufällig von Kardinal Fesch in Rom gefunden wurde und sich jetzt in den Galerien des Vatikans befindet; er scheint zur ersten Florentiner Phase zu gehören, ist aber in keinem Dokument erwähnt.

Die Geschichte der vollendeten Werke dieser zwölf oder vierzehn Jahre (ungefähr 1470-1483) ist also sehr spärlich. Man muss sich aber in Erinnerung rufen, dass Leonardo schon völlig von Projekten in Mechanik, Hydraulik, Architektur, Militärtechnik und Bauwesen ausgefüllt war und seine Aufgabe in experimentellen Studien und Beobachtungen in jedem Zweig der theoretischen oder angewandten Wissenschaft sah, und zwar sowohl in solchen, die in seinem Zeitalter begonnen worden waren, als auch in solchen, in dem er selbst der erste Pionier war. Er war voller neuer Ideen über die Gesetze und Anwendungen mechanischer Kräfte. Seine architektonischen und technischen Projekte waren von einer Kühnheit, die selbst seine Mitbürger Alberti und Brunelleschi erstaunte.

In der Geschichte gibt es wenige Figuren, die vor dem geistigen Auge anziehender sind als die Leonardos während der Phase seiner vielseitigen und schillernden Jugend. Tatsächlich wurde er sogar verleumdet und wegen unmoralischer Praktiken denunziert, aber vollkommen und ehrenhaft freigesprochen.

Im Gegensatz zum späteren Michelangelo gab es an ihm nichts Düsteres, Geheimnisvolles oder Mürrisches; er war offen und freundlich zu jedermann. Er hat die selbstgenügsame Kraft der Einsamkeit in fast den gleichen Worten wie Wordsworth gepriesen, und von Zeit zu Zeit sonderte er sich selbst in seiner Jugend für eine Saison in völliger intellektueller Absorption ab, zum Beispiel als er zwischen Fledermäusen, Wespen und Echsen arbeitete, dabei Schlafen und Essen vergaß. Leider müssen wir den schriftlichen Überlieferungen und der eigenen Fantasie vertrauen, um eine Vorstellung von ihm zu gewinnen. Es ist kein Porträt Leonardos aus dieser Zeit seines Lebens überliefert.

Seine weit reichenden Pläne und Studien brachten ihm keinen unmittelbaren Gewinn und lenkten ihn von den Aufgaben ab, mit denen er sich seinen Lebensunterhalt hätte bestreiten können. Trotz seiner glänzenden Fähigkeiten und seines Talents blieb er arm. Wahrscheinlich machte ihm sein ausschließlicher Glaube an experimentelle Methoden und seine Geringschätzung für reine Autorität – sowohl in der Wissenschaft als auch in der Kunst – die intellektuelle Atmosphäre des Medici-Zirkels unsympathisch, mit ihrem gemischten Kult aus klassischer Vergangenheit und Christentum, mystisch vermischt und versöhnt mit dem Platonismus. In jedem Fall war er sofort bereit, Florenz zu verlassen, als ihm am Hof von Ludovico Sforza in Mailand die Chance für einen festen Dienst angeboten wurde.

Bald nachdem der Fürst seine Macht als nomineller Protektor seines Neffen Gian Galeazzo Sforza – tatsächlich aber als usurpierender Herrscher des Staats – fest etabliert hatte, griff er ein Projekt zur Errichtung eines Reitermonuments zu Ehren des Gründers des Herrscherhauses Francesco I. Sforza wieder auf und fragte Lorenzo di Medici um Rat bei der Wahl eines Künstlers. Lorenzo empfahl den jungen Leonardo, der sich entsprechend um 1483 nach Mailand begab.

Zu dieser Zeit standen Feindseligkeiten zwischen Mailand und Venedig unmittelbar bevor; dem ist es zweifellos zu verdanken, dass Leonardo im Empfehlungsschreiben an den Herzog, der seine Fähigkeiten darlegte, seinen Anspruch auf Patronage hauptsächlich auf seine Fähigkeiten und Erfindungen in der Militärtechnik begründet. Nachdem er diese in neun Punkten im Detail vorbrachte, sprach er in einem zehnten von seinem Können als Bauingenieur und Architekt und fügte schließlich einen kurzen Abschnitt mit einem Hinweis hinzu, was er in Bezug auf Malerei und Bildhauerei könne, insbesondere bei einer angemessenen Ausführung des Monuments für Francesco Sforza.