Die verbleibenden zweieinhalb Jahre seines Lebens verbrachte Leonardo im Schloss Clos Lucé bei Amboise, das ihm mit einer großzügigen Pension zu seiner Verwendung überlassen wurde. Der Hof kam oft nach Amboise, und der König erfreute sich seiner Gesellschaft. Er erklärte sein Wissen in den schönen Künsten und in der Philosophie als jenseits dem aller Sterblichen. Im Frühjahr 1518 hatte Leonardo Gelegenheit, seine alten Talente als Festmeister auszuüben, als der Dauphin getauft und eine Medici-Bourbonische Hochzeit gefeiert wurde. Er zeichnete Pläne für einen neuen Palast in Amboise und arbeitete am Projekt eines großen Kanals (Canal du Centre) zwischen Loire und Saône. Weil schriftliche Beweise fehlen, ist ein einfallsreicher Versuch unternommen worden, zu beweisen, dass er die berühmte spiralförmige Treppe in Blois entworfen hat.

Unter seinen Besuchern war ein Landsmann, Kardinal Louis d’Aragon, dessen Sekretär einen Bericht hinterlassen hat. Leonardo litt anscheinend an einer leichten Paralyse, die die Bewegung seiner Hand beeinträchtigte. Aber er zeigte dem Kardinal drei Bilder, das Porträt eines Florentiner Dame für Giuliano de Medici (die Gioconda?), die Jungfrau im Schoss der Hl. Anna (das Louvre-Bild, vollendet in Florenz oder Mailand 1507-1513?) und einen jugendlichen Johannes der Täufer. Das letzte, das möglicherweise erstellt wurde, nachdem er sich in Frankreich niedergelassen hatte, ist das abgedunkelte und teilweise neu gemalte, aber immer noch kraftvolle Bild eines Oberkörpers im Louvre , mit einem Lächeln inneren Entzückens und dem prophetischen Finger aufwärts zeigend, wie der Heiligen Anna im National-Gallery-Karton. Über die Pomona, die von Lomazzo als Werk der Amboiser Zeit erwähnt wird, sagt sein Besucher nichts, auch nicht über den Bacchus im Louvre , der traditionell Leonardo zugeschrieben wurde, aber klar das Werk eines Schülers ist. Neben Gemälden scheint der Meister seinen Besuchern auch einige seiner vielen Notizen und Beobachtungen über Anatomie und Physik gezeigt zu haben. Er hoffte immer noch, Ordnung in seine Aufzeichnungen zu bekommen, eine Ansammlung aus mehr als vierzig Jahren, und vielleicht der Welt einen Teil der Studien zu geben, die sie enthielten. Aber seine Kraft war fast erschöpft. Am Osterabend 1519 fühlte er, dass sein Ende nah sei, und machte sein Testament. Es bestimmte, dass in drei verschiedenen Kirchen in Amboise Messen gelesen und Kerzen geopfert werden sollten, dass er in St. Florentin beerdigt werden wolle, und dass sechzig arme Männer bei seiner Bestattung als Fackelträger dienen sollten.

Vasari schwätzt von einer Bekehrung und Reue auf dem Totenbett. Aber Leonardo war nie ein Freund oder ein Feind der Kirche gewesen. Manchmal prangerte er in der Tat scharf die Anmaßung der Priester an; aber niemand hat mit so tiefer spiritueller Einsicht einige der entscheidenden Momente der christlichen Geschichte dargestellt. Seine unersättlichen Forschungen über die Natur brachten ihm den Verdacht ein, magische Künste zu betreiben, die er aber über alles verachtete. Die Neigung seiner Denkweise war immer hin zu den Lehren der Erfahrung und gegen die der Autorität, und Naturgesetze beschäftigten seine Gedanken sicherlich weit mehr als religiöse Dogmen; aber wenn er diese erwähnte, tat er es mit Respekt, als ob er von einer Seite, die nicht seine eigene ist, Licht auf die Wahrheit der Dinge wirft. Seine Anpassung am Ende widersprach nicht seiner Vergangenheit. Er empfing die Sakramente der Kirche und starb am 2. Mai 1519.

König Franz, zu der Zeit an seinem Hof in Saint-Germain-en-Laye, soll um den Verlust eines solchen Dieners geweint haben; dass er am Todesbett anwesend war und den sterbenden Maler in seinen Armen hielt, ist ein Märchen. Nach einer vorläufigen Bestattung anderswo wurden die Gebeine entsprechend seinem Willen am 12. August zum Kloster von St. Florentin gebracht. Er hinterließ alle seine Manuskripte und anscheinend die gesamte Ausstattung seines Ateliers zusammen mit anderen Geschenken dem ergebenen Francesco Melzi, den er zum Vollstrecker bestimmte; seinem Diener Battista Villani und Salai jeweils die Hälfte seines Weinbergs außerhalb Mailands; Geld und Kleider seinem Dienstmädchen Maturina; Geld den Armen des Hospitals in Amboise; und seinen Halbbrüdern vierhundert Dukaten, die in Florenz hinterlegt waren.

divina_proportioneWie kaum ein anderer Mensch war Leonardo gleichzeitig für Kunst und Wissenschaft begabt. In der Kunst war er ein Erbe und Perfektionierer, in einer Zeit großartiger und vielseitiger Bestrebungen geboren, denen er die Krone aufsetzte, indem er sowohl seine Vorgänger als auch seine Zeitgenossen übertraf. In der Wissenschaft war er ein Pionier, der völlig für die Zukunft arbeitete, zum großen Teil alleine. Dass die beiden fantastischen Talente sich in gewissem Masse gegenseitig neutralisieren würden, war unvermeidlich. Keine vorstellbare Kraft eines einzigen Menschen hätte genügt, ein Hundertstel dessen zu leisten, was Leonardo versuchte. Allein der Versuch, das Verständnis von Licht und Schatten in die Malerei einzubringen, sollte die Fertigkeiten von Generationen in Anspruch nehmen.

Leonardo strebte danach, seine Erkenntnisse in diesem Gebiet anzuwenden und gleichzeitig die alten Florentiner Stärken in linearer Zeichnung und psychologischem Ausdruck zu einer Perfektion zu bringen, von der noch niemand geträumt hatte. Das Ergebnis ist zwar fabelhaft in der Qualität, aber bedauerlich mager in der Quantität. Wissen und Tun lockten ihn gleichermaßen, und in der Kunst, die im Tun besteht, wurden seine Bemühungen oft durch sein angestrengtes Verlangen nach Wissen gelähmt. Sein Wissensdurst war zuerst erweckt worden durch den Wunsch, seine anzufertigenden Bilder von Schönheit und Kraft zu perfektionieren. Dann entstand in ihm die Leidenschaft nach Wissen um seiner selbst willen. In der Balance seiner Natur konnte zwar die vergilsche Sehnsucht rerum cognoscere causas nie wirklich den Aufruf zum aktiven Handeln zum Schweigen bringen. Aber im Laufe der Zeit wandte er sich mehr und mehr davon ab, seine Fähigkeiten für Schöpfungen seiner Fantasie einzusetzen und versuchte mehr, das mit seinen Studien erworbene Wissen über die Kräfte der Natur zum Nutzen für die Menschheit einsetzen. In der Wissenschaft war er einer der ersten Menschen der Moderne, der sich mit den Problemen beschäftigte, an deren Lösung die Forscher späterer Generationen gearbeitet haben. Florenz hatte andere Söhne von universellem Genie – künstlerisch und technisch – darunter vielleicht Leon Battista Alberti als der wichtigste. Aber je mehr die Spannweite und der Charakter von Leonardos Studien erkundet worden ist, desto mehr überragt seine Größe sie alle.